Praxis herzwärts Hesstrasse 27 Liebefeld

4. Gespräch: Vertrauen und chronische Schmerzen

AE: Willkommen.
M:  Salam, Friede sei mit dir.
AE: Dieser Gruss  nervt. Ich bin im Unfrieden nach dieser Nacht, in der ich wieder kein Auge schliessen konnte, weil mein Körper schmerzte.
M:  Unfriede sei auch mit uns, mitten im Lebensfluss.
AE: Sein! Wie kann ich denn sein mit diesem verkörperten Unfriede in meiner Mitte?
M:  Mitte?
AE: Ja, in meiner Mitte. MittenRäume, nennen das die Körpertherapeuten.
M:  Und was ist deine Mitte für dich?
AE: Ich habe keine.
M:  Aha. Für mich ist die Wirbelsäule eine Vase aus Licht, manchmal spürbar, manchmal weniger, mitten in meinem Körper drin, als stabilisierende Säule, an der alle Glieder, Organe, Gewichte entspannt hängen. Was ist sie gerade jetzt für dich?
AE: Für mich ist die Wirbelsäule ein schmerzendes Krummbein, das stur und starr ihren eigenen Weg geht. Die mich wach hält Nacht um Nacht.
M:  Was würde sie sagen, wenn du mit ihr in ein Gespräch trätest?
AE: „Ich mach mein Bestes“, brummte sie grimmig.
M:  Ihr Bestes?
AE: Ihr oder mein Bestes.
      Was kann ICH ändern, dass Du aufrichtig, stabil und frei schwingend dein Werk in meinem Körper besser tun kannst?
M:  „Ich bin dein Verborgenes, dein Plan, dein noch nicht vollständig ausgepacktes Geschenk des Lebens. Entziffere mich, rühr dich, beweg dich, komm hinein in die Materie, in die Schönheit des Daseins.“
AE: Diese mentale Sinnstiftung löscht kein bisschen meinen Grimm und auch nicht den Schmerz. Und nicht die langen qualvollen Nächte, die sich seit Jahrzehnten dahinziehen. Und nicht die Tage, an denen mir danach die Motivation zum Dasein fehlt. Und die Kraft zum Lebendigsein reduziert ist.
M:  Ah.
AE: Mh.
M:  Und, was sagst du zu ihr?
AE: Wohin soll ich noch, was gilt es denn immer noch zu akzeptieren? Welche Abgründe von Schmerz und Menschsein und Kraft und Wunder und unheilbare Wunden und welches Leben, welchen Tod und was Alles ist zu begegnen?
M:  „Nichts zu vermeiden, sorry, geht nicht.“
AE: Die Sinnlosigkeit im ganzen Ausmass?
M:  „Ja, auch.“
AE: Aber die kenne ich doch schon auf verschiedensten Ebenen.
M:  Wie wäre es mit dem Anfreunden an eine einzige Ebene?
AE: Die der Gegenwart, meinst du?
M:  „Ja“, meint sie. „Mit dem Dasein, ohne Fluchtmöglichkeit.“
AE: …
M:  …
AE: Na ja. Sogar die Flucht durch Identifikation mit Gedanken und Gefühlen, all die gemachten Zusammenhänge zur Erleichterung des Lebens, meinst du? Kohärenz, Ressourcenorientierung?
M: Mh.
AE: Mh. Ok. Ich versuch‘s.
M: „Ja, versuch es doch immer und immer wieder. Solange du da bist.“
AE: Solange?
M: Solange.
AE: Das ist anstrengend.
M: Und schön.
AE: Ja. Und schön.
M: In der Nacht der Schmerz, der dich wach hält. Und dir erlaubt noch mehr von diesem Dasein mitzukriegen.
AE: Kann ich denn nicht funktionieren, wie die anderen auch? Bitte.
M: Du funktionierst wie die anderen auch.
AE: Ach ja, tatsächlich?
M: Ja.
AE: In der Auflehnung gegen das, was ist?
M: Ja. Und in der Anhaftung an das, was sein sollte.
AE: Und Reife würde bedeuten ein Ja zu finden für meine Anhaftung und meine Ablehnung?
M: Mh. Genau. In Aziz-ad-Din Nasafis Worten:

    Dein Leben in der Welt des Daseins hat einen Zweck und ein Ziel.
    Der Zweck ist die Reife, und das Ziel ist die Freiheit.
    Freiheit heisst, den Kreis des Daseins zu vollenden.

    Nicht Aussteigen durch scheinbares Verstehen, sondern Eintauchen in den Ablauf der Ereignisse wäre eine Richtung, die wir immer wieder anpeilen können.

AE: Dann hilft die Wirbelsäule mir mit dem chronischen Schmerz durch alle mentalen Konstruktionen hindurch zu ziehen? Und das wäre Reife? Dieses Weitergehen wäre Reife?
M: Für dich, ja.
AE: Für andere gilt anderes?
M: Ja, klar.
AE: Und das zu akzeptieren, was ist, ohne Verständnis, mit Verständnis, mit wechselndem Verständnis, wäre  das Geschenk von dir an mich, Wirbelsäule?
M: „Vielleicht… Wenn du dich so ausschliesslich ausdrücken willst.“
AE: Zwischendurch hilft das Einseitige, das Formulierte, Klargefasste.
M: Das Fassen in Worte und Bilder ist ein wunderbares Spiel. Spiele es, es macht das Leben bunt und erweitert es um eine interessante Ebene.

AE: Danke.
M: Ich danke dir.
AE: Gern geschehen.
M: Friede?
AE: Momentan ist etwas Friede mit dem, was ist.